8

 

Draußen begann der Morgen zu grauen. Durch den vergitterten Sehschlitz, der Einblick in die Fahrerkabine des schwarzen Kastenwagens und auf die Windschutzscheibe gewährte, kamen die ersten Goldstrahlen des Sonnenaufgangs zu uns in den Frachtraum gekrochen. Die Fahrt mit dem zwangsjackengeknebelten, armen Refizul hatte nicht sehr lange gedauert. Mein innerliches Navigationssystem ließ mich wissen, daß wir nur eine kurze Strecke aufs Land kutschiert worden waren. Als nun aber der Wagen anhielt und die Hecktüren von Zack und dem Panzermann wieder aufgerissen wurden, gewahrte ich, wie radikal wir alles Städtische hinter uns gelassen hatten. Ehe ich einen spontanen Fluchtversuch riskieren konnte, hatte der zombiegleiche Zack mich schon am Nacken gepackt, und Refi wurde von dem Riesen herausgezerrt.

Wir befanden uns am Ufer eines Sees, der ob seines lieblichen Randbewuchses von einem romantisch veranlagten Gartenbauarchitekten kreiert worden zu sein schien. Sich tief ins Wasser beugende Trauerweiden, im Morgenwind wiegende Schilfrohre, moosbewachsene Steine und eine atemberaubend farbenträchtige Blütenpracht umgaben das Gewässer. Alles war flankiert von einem düsteren Mischwald, der Assoziationen an Grimmsche Märchen weckte.

Etwas Märchenhaftes konnte man auch dem See selbst mit seinem klaren Wasser und der schier perfekten Kreisform abgewinnen. Ziemlich im Zentrum befand sich eine putzige Insel, welche von einem einzigen Gebäude dominiert wurde. Es handelte sich dabei um einen altertümlichen Bau, ein ehemaliges Kloster vielleicht oder der Landsitz eines schöngeistigen Monarchen. Obgleich das eckige Mauerwerk überwiegend in romanischer Schlichtheit gehalten war, traten hier und dort kunstvolle Türmchen, Erker, Portale und Kapellenauswölbungen mit verspielter Ornamentik hervor. Die Anlage erstreckte sich zwischen zwei burgähnlichen Mauertürmen von einem Inselende zum anderen. Es bedurfte keiner großen Phantasie, sich die ungezählten Flure und Gänge im Innern des alten Kastens vorzustellen und wie leicht man sich in ihnen verirren konnte. Der altehrwürdige Bau wirkte völlig marode und grau und überhaupt dem Gefängnis des Grafen von Monte Christo nicht unähnlich. Und doch schmeichelte ihm die Morgenröte so charmant, tauchte ihn in solch berückende warme Farbtöne, daß es eine einzige Augenweide war.

Ganz in unserer Nähe ragte ein arg einsturzgefährdet wirkender Anlegesteg ins Wasser. Die krummen und schiefen Planken der morschen Holzkonstruktion krümmten sich an den Seitenenden wie die Zehennägel einer häßlichen Kreatur nach oben. Daran war eine Fähre vertäut, die offenkundig aus einem anderen Jahrtausend stammte, ein schlichter und wie von einem Schreinerlehrling an seinem ersten Arbeitstag gezimmerter Kasten und, wen wundert's, genauso morsch.

In Begleitung unserer fürsorglichen Pfleger begaben wir uns zu diesem Steg. Ich schöpfte schon ein wenig Hoffnung und begann Pläne zur Flucht zu schmieden, weil ich mir ausrechnete, daß die beiden nicht dieses archaische Ungetüm lenken und gleichzeitig Refizul und mich in Schach halten würden können. Doch gerade als wir das Ende des Stegs erreichten, versperrte uns mit einem lauten Schiuuuw! eine recht beeindruckende Gestalt den Weg. Das Ganze war einigermaßen wundersam, allerdings hatte ich beim Ausbrüten der Fluchtgedanken weder nach rechts noch nach links geguckt, sondern alles um mich herum ausgeblendet, so daß es durchaus möglich war, daß ein Fremder außerhalb meines Wahrnehmungskreises aus dem Nichts auftauchen konnte.

Dieser Fremde entsprach von seinem Erscheinungsbild her irgendwie dem maroden Anlegesteg. Sein Gesicht war das eines knochigen Kröterichs, es bestand nur aus Runzeln und war trotz des Traumsommers bleich wie ein Leichentuch. Ein weißer Kaktusbart sproß ihm aus den hohlen Wangen, die milchig trüben Augen lagen in tiefen Höhlen. Der greisenhafte Mann trug einen dunklen Schlapphut aus wie mürbe gekautem Leder und eine Art Pelerine, die farblich und von der Beschaffenheit her der Kopfbedeckung ähnelte. Er stemmte sich auf einen verkrüppelten Pflock, augenscheinlich der Antrieb seines Wassertaxis zu der anderen Welt.

»Grüß dich, Charon«, sagte der Panzermann zu dem Kröterich, der so grimmig dreinblickte, als wolle er kleinen Kindern Alpträume bescheren. »Na, alles frisch? Och, Entschuldigung! Hab vergessen, daß der Ausdruck mit deiner Gesichtsfarbe kollidiert. Nichts für ungut, Mann, bring uns einfach rüber.«

»Den Obolus!« tönte Charon mit der knarzigen Stimme eines kaputten Science-fiction-Film-Roboters.

Ich glaubte an einen weiteren Witz, denn weshalb sollten die Angestellten für einen Shuttledienst zu ihrem Arbeitsplatz bezahlen, wo doch so was normalerweise von der Firma geregelt wurde? Doch es war kein Witz, ganz im Gegenteil. Der Hüne griff in die Hosentasche und zog daraus nicht irgendeinen langweiligen Schein hervor, sondern wahrhaftig einen Goldtaler. Dieser funkelte augenblendend in dem intensiver gewordenen Sonnenschein. Charon überprüfte die Echtheit der Münze, indem er mit seinen wie gesprengte Steinblöcke wirkenden Vorderzähnen hineinbiß, ließ sie dann in der Pelerine verschwinden und machte den Weg frei.

Wir stiegen in die schon zu einem Viertel überspülte, aber auch sonst alles andere als vertrauenerweckende Fähre, und der alte Fährmann am Heck tauchte seinen Pflock ins Wasser und stieß vom Ufer ab. Das Ding abwechselnd rechts und links in den Grund des Sees stechend und so das Holzvehikel vorwärts schiebend, steuerte er in Richtung der Insel. Beim Näherkommen gab das prächtige und leider doch so heruntergekommene Gebäude immer ausgeklügeltere architektonische Details preis. Nach der Hälfte der Strecke begann uns Dunst einzuhüllen. Es war nicht ungewöhnlich, daß zu dieser Jahreszeit, da in der Frühe die morgendliche Wärme auf das in der Nacht abgekühlte Wasser traf, Nebelphänomene über den Gewässern entstanden. Ungewöhnlich waren nur die Dichte des Dunsts und die schlangengleich tanzenden Schwaden, die der Szenerie etwas Gespenstisches verliehen. Das Sonnenlicht durchflutete den Brodem und ließ bizarre Diffusionseffekte entstehen.

Während der ganzen Zeit schaute Refizul nachdenklich vor sich hin und schwieg. Er schien sich mit seinem Schicksal abgefunden zu haben. Ich selbst hatte mich inzwischen an meinen Entführer Zack gewöhnt, der mich auch nicht mehr grob am Nacken packte, sondern ganz lieb im Arm hielt. Wenn er mich gleich auch noch mit einem delikaten Mahl überraschte, würde ich ihn, so ausgepowert wie ich mich fühlte, glatt heiraten.

Wir erreichten endlich das andere Ufer, verließen die Fähre und gingen an Land, während Charon unverzüglich zurücksetzte. Vor dem spitzbogenförmigen, mit einem Zierband geschmückten Haupttor stand auch schon das entsprechende Begrüßungskomitee: zwei zahnlose, alte Frauen und ein Mann, der der König der Bekloppten zu sein schien. Sie steckten in weißen Nachthemden und empfingen Refizul wie einen Triumphator. Als sie ihn ankommen sahen, begannen sie zu tanzen, stimmten irgendwelche Gesänge an und vollführten mit wirrem Blick Gesten der Anbetung.

Trotz der Hosianna-Rufe gelang es mir, mich kurzzeitig in die Betrachtung des schmucken Portals zu vertiefen. Aus dessen Einfassung traten in kohlschwarzem Stein gemeißelte Köpfe, Fratzen, Torsos, Tiergestalten und greuliche Mythenwesen hervor. Alle Figuren hatten eine von Schrecken und Qual geprägte und grotesk verrenkte Pose eingenommen, aus traurigen Augen starrten sie in ein namenloses Grauen. Sie schienen gefangen in einem furchtbaren Ort, an dem allein Gewalt und Schmerz regierten.

»Refizul, o anbetungswürdiger Refizul!« kreischte eines der Weiber, dessen schlohweiße Haarpracht einem von talentlosen Vögeln gebauten Nest ähnelte. Sie sah aus wie eine Hexe in Rente. Die Gesichtshaut erinnerte an zerknülltes Recyclingpapier, die Augen waren groß wie Pingpongbälle, die Lippen über die Ränder hinaus scharlachrot geschminkt. Anscheinend handelte es sich bei dem alten Gemäuer um eine sehr fortschrittliche Institution, wenn die Irren schon von Irren abgeholt werden durften. »Wie ist es dir in deinem Königreich ergangen? Du mußt uns alles erzählen.« Sie war ganz aufgeregt.

»Ja, später, Clara.« Refizul rang sich ein künstliches Begrüßungslächeln ab, während er von dem Panzermann rüde vorwärts geschubst wurde.

»Du bist aber ein schöner Neuzugang. Wie heißt du denn?« hörte ich plötzlich an meinem rechten Ohr eine säuselnde Stimme. Ich drehte mich um und erblickte die männliche Verkörperung des Wahnsinns neben mir. Der alte Knabe mit dem dünnen weißen Haarkranz um die wie poliert wirkende Glatze stank zum Herrgottserbarmen. In dem schmutzigen Nachthemd und mit der gebrochenen und abstrus schief gewachsenen Nase, den Knopfaugen und dem Stoppelbart war er der Inbegriff des Revoluzzer-Idols sämtlicher Seniorenheime. Er haschte nach mir, doch Zack, der mich anscheinend mittlerweile ins Herz geschlossen hatte, hielt mich wie eine eifersüchtige Mutter von ihm fern. Nichtsdestotrotz trippelte er mit dem enthusiastischen Ausdruck eines Kindes, das in der Zoohandlung zum ersten Mal ein Meerschweinchen gesehen hat, neben mir her und machte mit den Fingern alberne Kille-kille-Bewegungen.

»Meinst du mich?« fragte ich aus reiner Verzweiflung.

»Na klar, wen denn sonst«, erwiderte er.

Hoppela! Schon wieder einer, der unsere Sprache verstand. Anscheinend hatte Refizul die Kunst aller Künste doch erst in dieser Akademie erlernt. Oder gestaltete sich die Sache vielleicht eher so, daß die Zwiesprache zwischen Mensch und Tier eine Domäne der Verrückten war, was eigentlich zum lustigen Allgemeinwissen gehörte? Ermüdende Gedanken, die zu Ende zu denken nach Ende der Ermüdung angebracht waren ...

»Sorry, Jetlag«, wimmelte ich ihn ab.

»Macht nichts, hab jetzt eh einen Termin bei Gott«, sagte er und trat irre kichernd zurück.

Wir gelangten zum Hauptgebäude, welches meine schlimmsten Erwartungen übertraf. Ich hatte mir das Innere als einen gefängnisähnlichen Ort ausgemalt. Das mit dem Gefängnis stimmte, bloß hatte ich nicht ahnen können, daß hier Zustände wie in den allerersten Anfängen des Gefängniswesens herrschten. Wir durchquerten einen unendlich scheinenden Korridor mit spitzbogigem Tonnengewölbe, der rechterpfote von kerkerähnlichen Zellen gesäumt war. Diese waren fensterlos und beherbergten jeweils nur eine schmutzige Pritsche, eine zersprungene Waschschüssel und als Abort ein Loch im Boden. Selbstverständlich war jedes Verlies mit einem individuellen Design gestaltet, sei es in Gestalt von chaotischen Schmierereien an den Mauern oder nicht minder verschrobenen, aufgeklebten Collagen aus Zeitungs- und Magazinschnipseln. Gitterwände mit gurkendicken Eisenstäben dienten sowohl als Eingang als auch als eine perfekte Überwachungsmethode, um das Treiben der Insassen drinnen im Auge zu behalten.

Aber – und dieses Aber hatte es in sich – sämtliche Gitter standen offen! Die spektakuläre Folge davon konnte man auf dem Korridor besichtigen. Die Patienten lungerten nicht still und leise herum, sondern veranstalteten im wahrsten Sinne des Wortes ein wahnsinniges Theater. Die Irrentruppe bestand aus fratzenschneidenden, wirr monologisierenden Wortakrobaten, Volksreden an unsichtbare Untertanen haltenden Möchtegern-Majestäten, Pantomimen, die dadaistische Aufführungen veranstalteten, und Frauen, die den Verben kreischen und keifen reale Bedeutung verliehen. Die greisenhaften Leute in Nachthemden waren zu hundert Prozent unfaßbar häßlich, teilweise entstellten Narben ihre Gesichter und Körper, sie stanken nach Fäkalien und pafften nonstop Selbstgedrehte. Es war tatsächlich die Hölle!

Doch als sei diese eh schon im Übermaß vorhandene Konfusion nicht genug, wuselten zwischen den alten Radaubrüdern und -Schwestern auch noch Vertreter meiner Art herum. Ich konnte einen durchtrieben aussehenden schwarzen Orientalen ausmachen, dessen schmaler Körper so langgezogen war wie ein Ofenrohr, einen fetten schneeweißen Perser, viele Angehörige der Rasse Rex mit ihrem lockigen, plüschigen Fell und der charakteristischen »römischen« Nase, aprikosenfarbene Burmas und jede Menge Promenadenmischungen. Sie schienen mit den Irren in einem ständigen Dialog, um nicht zu sagen, in einer innigen Beziehung zu stehen. Das ewige Miauen, Jaulen, Fauchen und andere, undefinierbare Laute vermischten sich mit dem Geschnatter der Insassen, und alles zusammen erwuchs sich zu einer unerträglichen Kakophonie.

Zunächst konnte ich mir diese eigenwillige Konstellation von Mensch und Tier ausgerechnet in einem Sanatorium, wenn auch in einem skandalös verwahrlosten, nicht erklären. Dann jedoch regten sich Erinnerungsfetzen in meinem Kopf, die wohl aus dem Studium von medizinischen Büchern im Brunnenbecken hängengeblieben waren. Soweit ich mich entsann, war darin die Theorie vertreten worden, daß Tiere im Krankenhaus- und Seniorenheimalltag nützliche Dienste zu erweisen vermögen. Der Kontakt mit der animalischen Kreatur zeigte bei den Patienten vielerlei positive Wirkungen. Das Immunsystem wurde gestärkt, die Heilung schritt schneller voran, es trat eine allgemeine Beruhigung ein, und das Gefühlsleben insgesamt erfuhr eine Bereicherung. Weshalb allerdings solch fortschrittliche Methoden ausgerechnet in einer Horror-Klapsmühle zur Anwendung kamen, blieb ein Rätsel.

Als die Irren uns Neuankömmlinge erblickten, ließen sie schlagartig von ihren verrückten Aktivitäten ab. Es war unverkennbar, daß sie Refizul als eine Art Star betrachteten, dessen Rückkehr unter ihnen große Freude auslöste. Einer nach dem anderen kamen sie zu ihm, auch das Tiervolk, streichelten über seinen aus der Zwangsjacke wie ein Puppenkopf mit Perücke herausragenden, silbrig ergrauten Schädel und redeten wirr auf ihn ein.

Der schwarze Orientale, ein ziemlich nervöses Bürschchen, sprang Refizul gleich auf die Schulter und fummelte vor Begeisterung mit den Pfoten an ihm herum. »Mensch, Alder, daß ich das noch erleben darf«, sagte er und schleckte ihm mit einer fast roten Zunge übers Gesicht. »Gestern noch als schizoclean entlassen, und heute wieder rückdeportiert in die Bekloppten-Haute-Couture. Hast du etwa da draußen was von Marsmännchen verlautbaren lassen, die pausenlos die New Yorker Börse manipulieren? Ich meine, so abwegig ist das ja nicht, wie meine Untersuchungen klar belegen.«

»Nein, Efendi, es ist das alte Lied«, erwiderte Refizul, während er vom Panzermann vorwärts gescheucht wurde. »Sie wollen es einfach nicht hinnehmen, daß ich mit euch sprechen kann.«

»Ist klar, Alder, würde denen einige Probleme bereiten. Ich frage mich nur, wieso du erst hinausgehst, um die ganze ungläubige Bande davon zu überzeugen, wo du es doch in all den Jahren nicht einmal bei dem Fettarsch hinter dir geschafft hast. Ich meine, immerhin bist du doch der Chef hier und könntest es dir wie Gott in der französischen Kloake gutgehen lassen.«

Efendi quatschte in seiner wohl allein dem hiesigen Publikum verständlichen Art noch weiter, während ich alles um mich herum ausblendete, um mir selbst zwei gewichtige Fragen zu stellen. Hatte Refizul vor ein paar Stunden in der Villa nicht behauptet, daß er zeit seines Lebens auf das Wunder der Kommunikation zwischen Mensch und Tier gehofft habe, welches erst durch mich vollbracht worden sei? So wie es aussah oder besser gesagt, so wie es sich anhörte, schien dieses Wunder hier der Normalfall zu sein. Denn ich merkte, daß sich auch die anderen Geisteskranken frei von der Leber weg mit den Kreuchenden und Fleuchenden unterhielten. Da hätte Refizul sich weiß Gott nicht in Unkosten stürzen und tonnenweise audiovisuellen Schrott anschaffen brauchen. Und, was eigentlich die wichtigere Frage war, wieso sollte Refizul, wie dieser Efendi gesagt hatte, ein Chef hier sein? Meinte er, Refizul sei der Chef derjenigen, welche die New Yorker Börse durch Marsmenschen unterwandert sahen, oder der Chef der Klapse? Oder wie?

Während ich noch über derlei Ungereimtheiten sinnierte, kamen endlich diejenigen zum Vorschein, die in einer Heilanstalt sowie in jeder anständigen Medi-Soap die glorreichen Hauptrollen spielen: die Ärzte. Ihr Auftritt übertraf alles, was ich bis dahin gesehen hatte. Ein ganzes Kolloquium marschierte uns vom anderen Ende des Korridors entgegen. Gleich fünf Docs in strahlend weißen Kitteln bahnten sich in einer geraden Reihe den Weg durch das verrückte Volk. Dieses sprang angesichts ihrer Präsenz verängstigt zur Seite, so daß man von einer von den Docs verursachten Schneise reden konnte. Seltsamerweise sahen diese weniger wie Ärzte aus denn wie – Schaufensterpuppen. Die jungen Herren trugen akkurat rechtsgescheitelte, kurze schwarze Haare und waren frisch rasiert. Ihre ebenmäßigen Gesichter strotzten nur so vor Gesundheit, und ich hätte mich schwer getäuscht, wenn auch nur einer von ihnen unter eins neunzig groß gewesen wäre. Soweit die übernatürlich leuchtenden Kittel eine optische Abtastung zuließen, besaß ein jeder von ihnen den Body eines Athleten. Um ihre Mundwinkel spielte dieses manierierte Dauerlächeln, welches auch Versicherungsvertretern zu eigen ist. Ihr ganzes Wesen strahlte einen derartig aufgesetzten Optimismus aus, daß selbst um die Wette lächelnde Hutmodels aus den Fünfzigern dagegen vergeblich angestunken hätten. Allesamt hielten sie Klemmbretter mit Notizen in den Händen.

Allmählich waren sie so nahe, daß ich die Namensschildchen auf ihrer Brust entziffern konnte. Der Typ in der Mitte hieß Dr. Gabriel. Das durch die Luken unterhalb der Decke flutende Morgenlicht verlieh ihm eine goldene Aura, so daß er wie eine idealisierte Figur aus einer Glasmalerei wirkte. Links von ihm befand sich ein gewisser Dr. Michael, der merkwürdigerweise silbern reflektierte, und rechts ein Dr. Raphael. Bei den beiden an den Seiten schien es sich um ausländische Ärzte zu handeln: Dr. Uriel und Dr. Raguel. Doch im Grunde war es völlig egal, wie sie hießen, denn offenkundig kamen alle aus derselben Fabrik. Sie hatten etwas an sich, als müßten sie auf der Stelle die Rolle mit ihren Patienten tauschen, sobald ihre tägliche und nicht zu knapp bemessene Ration Valium auf einen Schlag abgesetzt würde.

»Wie ich höre, hast du über die Stränge geschlagen, Refizul«, sagte Dr. Gabriel und lächelte milde, als die ganze Truppe vor uns stoppte. Der Mann nannte eine Stimme sein eigen, die selbst Granit zum Schmelzen gebracht hätte. Der irgendwie liebliche Ton war sicherlich Teil einer therapeutischen Methode, die er sich auf etlichen Weiterbildungsseminaren hart erarbeitet hatte. Die Irren und ihre haarigen Betreuer hatten peu â peu ihre konfusen Selbstgespräche eingestellt. Sie waren den Göttern in Weiß hinterhergeschlichen und beobachteten den Verlauf der Geschehnisse mit angehaltenem Atem.

»Nein, eigentlich nicht. Nun ja, ein bißchen, ein klitzekleines bißchen«, wand sich Refizul, den der Panzermann dem Oberdoc wie ein entflohenes und wieder eingefangenes Raubtier stolz entgegenhielt. Seine langen Silberhaare schwangen gleich eines Fransenvorhangs vor seinem knitterigen Gesicht, welches in der Hoffnung auf Minderung der zu erwartenden Strafe ganz reumütig geworden war. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß solch psycho-sadistischer Druck auf Patienten überhaupt erlaubt war, doch ein Blick auf das vorsintflutliche Ambiente lehrte mich eines Besseren.

»Refizul, ich hätte gedacht, daß der Chef sich in dieser Sache unmißverständlich ausgedrückt hätte«, fuhr Gabriel fort. Nanu, schon wieder ein Chef, diesmal ein neuer, der sogar über den sauberen fünf stand? »Wir hatten doch eine Abmachung. Deiner Entlassung wurde zugestimmt, weil du zugesichert hast, diese Wahnvorstellung mit dem Tier-sprech nicht weiterzuverfolgen. Du hast uns dein Wort gegeben. Doch nun müssen wir enttäuscht feststellen, daß die letzten dreißig Jahre mühsamer Therapiearbeit verlorene Jahre waren.«

»Aber das ist keine Wahnvorstellung!« schrie ich den Doctores unbekümmert zu. »Er kann tatsächlich mit uns reden.« Natürlich war der Zwischenruf ein Reflex, ein spontaner Protestausbruch in Anbetracht der schlimmen Demütigung, die diesem bemitleidenswerten Mann widerfuhr. Ich rechnete nicht damit, daß mich einer von diesen geschniegelten Psycho-Robotern verstehen würde. Doch mein Ausruf war kaum verhallt, da wandte sich Dr. Michael, der Silberne, mit seinem Plastikantlitz und seiner Plastik-Seitenscheitel-Frisur zu mir und warf mir einen vernichtenden Blick zu, der locker die Sprengkraft einer A-Bombe überbot. Ich konnte mich irren, aber in seinen mit einem Mal so schwarz wie Rohöl gewordenen Augen vermeinte ich sogar so etwas wie die hochzüngelnden Flammen eines brennenden Rohölsees zu sehen. Er hatte mich gehört und meine Worte verstanden. Es handelte sich also wirklich um ein Komplott, wie Refizul in der Villa beteuert hatte. Er hatte ja so recht gehabt, als er in dieser Sache dunkle Mächte oder von mir aus einen inkompetenten Medizinapparat verdächtigte. Gewisse Kreise wollten nicht, daß die Menschen mit den Tieren sprachen und umgekehrt.

»Es ist ganz einfach, Refizul«, fuhr Dr. Gabriel fort. Ein kaum wahrnehmbarer und sehr dubioser Seitenblick zu seinem Kollegen verriet mir, daß er den nonverbalen Austausch zwischen ihm und mir registriert hatte. »Dies ist eine Heilanstalt, sie dient dazu, Leuten wie dir zum inneren Frieden zu verhelfen. Angesichts deines besorgniserregenden Krankheitsverlaufs haben wir uns große Mühe gegeben. Schließlich wurdest du entlassen, wenn auch nicht als vollständig geheilt, so doch nach dem Urteil aller keine Gefahr für die Welt da draußen. Du durftest sogar ein von uns zur Verfügung gestelltes Haus beziehen.«

Häh? Hatte Refizul bezüglich der vermoderten Villa nicht erwähnt, daß er nach seiner Gefangenschaft zurück in das Haus seines Vaters gekehrt sei? Was redete der Kerl da überhaupt?

»Vielleicht kannst du dich nicht mehr entsinnen, weshalb du hier überhaupt eingeliefert wurdest. Oder doch?«

»Ähm, ja, schon, ja, so in etwa«, stammelte Refizul. Er hätte in Erwartung der drohenden Bestrafung jetzt sogar zugegeben, daß die Erdkugel ein Würfel sei. Denn daß eine drakonische Strafe folgen würde, war so klar wie der Unterschied zwischen Kugel und Würfel.

»Siehst du, selbst dieses verhängnisvolle Vergehen haben wir dir verziehen«, sagte Dr. Gabriel. Er sah plötzlich gar nicht mehr wie eine Schaufensterpuppe aus, sondern wie ein einfühlsamer junger Mann im Dienste einer Dritte-Welt-Organisation, der Buschmenschen von dem althergebrachten Brauch des Aufessens ihrer Anverwandten abbringen will. »Du weißt, warum. Weil wir den freien Willen respektieren. Es ist ein schmaler Grat zwischen dem freien Willen und dem Wahnsinn und ein noch schmalerer zwischen dem Wahnsinn und dem Grauen. Stets muß austariert werden, welcher uns gerade umtreibt. Doch wie heißt es bisweilen vor Gericht so schön: im Zweifel für den Angeklagten. Im Zweifel geben auch wir stets dem freien Willen den Vorzug. Das ist die wichtigste Spielregel, die uns der Chef auferlegt hat. Du mußt auf das, was du anstrebst, aus freien Stücken verzichten. Nichtsdestotrotz gibt es eine Grenze, und du hast diese Grenze ...«

»Bitte, ich werde die Grenze nicht mehr übertreten«, flehte nun Refizul wie um sein Leben. »Nie mehr, das verspreche ich hoch, ähm, ja, auch heilig! Diese Sache mit der Tiersprache, sie rührt eher von einer alten Gewohnheit her. Das ist nicht so wichtig.«

»Du lügst, Refizul! Du weißt, daß es die wichtigste Sache ist. Die letzte wichtige Sache.«

Ich wurde bei dem ganzen kryptischen Gebrabbel das Gefühl nicht los, daß es dabei um weit mehr ging als darum, einem chronischen Geisteskranken seine Flausen auszutreiben. Zwischen den Zeilen vermeinte ich die Handschrift geheimer Machenschaften zu lesen. Aber was sollte dann dieses Gerede über den freien Willen? Lag es tatsächlich in Refizuls Hand, der Kommunikation mit Tieren abzuschwören und dann fürderhin ein freies Leben zu führen? Doch wie hätten sich in diesem Falle diejenigen, die ihn über dreißig Jahre lang eingesperrt und mundtot gemacht hatten, sicher sein können, daß der Kerl nach seiner Entlassung nicht zum erstbesten Fernsehsender lief, um die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen? Weshalb hatte man den Alten nicht einfach umgebracht und somit einen Schlußstrich unter die leidige Geschichte gezogen? Und wie stand das alles in Zusammenhang mit den grausam hingemeuchelten Dudes, eine Verbindung, von der ich immer noch überzeugt war, daß sie existierte? Fragen über Fragen, die zu beantworten mir das plötzlich einsetzende Knurren meines Magens vorläufig verbat. Obgleich ich für den um Abbitte heuchelnden und sein Lebenswerk verleugnenden Refizul tiefstes Mitgefühl empfand und obwohl ich seinen Peinigern am liebsten ins Gesicht gesprungen wäre, meldeten sich nun weniger idealistische Bedürfnisse und verlangten nach Befriedigung. Da fügte es sich ideal, daß Dr. Gabriel anscheinend zum Schlußwort ansetzte.

»Es tut mir leid, mein Lieber«, sagte er. »Aber meine Kollegen und ich halten dich für zu intelligent, als daß du über die Konsequenzen deiner Bestrebungen nicht Bescheid hättest wissen können. Du bist schon einmal gefallen, Refizul, und viele Male danach. Manchmal hast du gewonnen, manchmal wir. Doch das letzte Gefecht wirst und kannst du nicht gewinnen. Denn dafür brauchst du einen Verbündeten, der stärker ist als du selbst. Deshalb wird die Therapie wieder aufgenommen – und die Heilung beginnt!«

»Nein! Nein!« schrie Refizul, und seine Stimme überschlug sich dabei wie bei einem Teenager im Stimmbruch. »Nicht die Therapie, bitte nicht die Therapie, Dr. Gabriel!« Er tobte in der Zwangsjacke, doch der Panzermann und Zack, der mich endlich zu Boden gleiten ließ, wußten ihn zu bändigen. Auch die anderen Doktoren griffen jetzt ein. Wie mit den Armen eines Oktopus wurde der Alte von allen Seiten gepackt und mit gemeinsamen Kräften in Richtung des Ausgangs am Ende des Korridors geschleift. Die um sie versammelten Verrückten bildeten erneut eine Gasse. Dabei stießen sie ängstliche Schreie aus, nahmen ihre bizarren Selbstgespräche und Aktivitäten von vorhin mit doppelter Intensität wieder auf oder gerieten in spastische Verzückung. Einige von ihnen warfen sich aus lauter Solidarität mit Refizul zu Boden, krochen neben ihm auf allen vieren und streckten ihm zitternde Hände entgegen, als sei er ein verkannter Heilsbringer.

Schließlich hatten ihn seine Peiniger aus dem Korridor geschafft, und der Panzermann baute sich mit verschränkten Armen und einem furchteinflößenden Blick vor dem Ausgang auf. Die Irrenschar heulte auf, doch da der Zugang zu ihrem Märtyrer von diesem Brocken versperrt war, blieb ihnen wohl oder übel nicht anderes übrig, als sich allmählich zu zerstreuen. Der kurzzeitige Auflauf vor dem Nadelöhr kam mir gerade recht, und da der Panzermann damit beschäftigt war, giftige Blicke zu der hyperaktiven Greisenmeute auszusenden, schlüpfte ich still und leise zwischen seinen Beinen hindurch und folgte dem Verschleppten.

Zack und die Ärzte schleiften Refizul durch endlose, katakombenartige Flure, die lediglich ab und zu von winzigen Fenstern mit einem diffusen Licht versorgt wurden. Der Alte flehte und bettelte immer noch. Gelegentlich ging es auch eine aus Gesteinsblöcken gehauene Treppe hinab, oder wir passierten düstere Kammern mit dem Interieur eines vor Äonen stillgelegten Schlachthauses, in denen vorsintflutliches medizinisches Instrumentarium lagerte. Vor allem blieb mir eine hübsche Anzahl von verrosteten, länglichen Gasflaschen im Gedächtnis haften, deren Inhalt wohl aus Gemischen für die Narkose oder für andere, undefinierbare Zwecke bestand.

Schließlich verschwanden alle in einem kleinen Eingang, der keine Tür besaß. Während ich mich vorsichtig dem Türbogen näherte, vernahm ich von drinnen ein ohrenbetäubendes Poltern und Refizuls verzweifelte Schreie. Es hörte sich an wie eine Teufelsaustreibung. Obwohl ich keine rechte Lust mehr hatte, mich als Voyeur des Grauens zu betätigen, trieb mich die verdammte Neugier schlußendlich bis zu der Schwelle, und ich lugte um die Ecke.

Es war ein Bild wie aus einem Horrorcomic. Die von einer nackten Glühbirne erleuchtete Kammer war vollgestopft mit Gerätschaften, die allem Anschein nach aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg stammten. Meßinstrumente, allesamt trübe Kästen, in deren Anzeigen es wie bei Opas Dampfradio bräunlich glühte. Weinrote Dioden schimmerten geheimnisvoll, und rote Nadeln zuckten nervös. Klobige Hebel und untertellergroße Drehknöpfe schmückten zylinderförmige Apparaturen. Geriffelte Schläuche und Kabel wanden sich wie eine Armee von gefährlichen Schlangen in den Eingeweiden des metallenen Gerümpels und verliehen ihm etwas von einem morbiden Sumpf. Der ganze Ort war von einem elektrischen Brummen erfüllt.

Die Ärzte hatten Refizul die Zwangsjacke abgenommen und ihn mit an der Stirn, am Brustkorb und an den Beinen verlaufenden Lederriemen auf einer Untersuchungsliege festgezurrt. Ein Gummiknebel war ihm in den Mund gerammt worden, so daß er außer gepreßten Uhhs! nichts herausbrachte. Dr. Gabriel und Dr. Michael tunkten gerade tennisballgroße Tupfer in eine Schüssel Wasser und befeuchteten damit die Schläfen des Zwangspatienten. Derweil trat Dr. Uriel mit einer Art Geburtszange aus dem Hintergrund. Von den kunststoffisolierten Griffen des riesigen Dings führten Kabel in eines der altersschwachen Geräte. Nachdem der Alte hinreichend leitend gemacht worden war, wurde die Zange an seine Schläfen angesetzt. Dr. Gabriel machte ein Zeichen zum Zurücktreten und drückte dann genüßlich einen hinter ihm befindlichen Hebel abwärts. Es dauerte eine Weile, bis sich die Uralt-Technologie mit genügend Elektrizität aufgeladen hatte. Dafür war das Resultat um so spektakulärer. Der durch die Zange fließende Strom bewirkte augenblicklich einen Energieabfall, und das eh an eine Funzel erinnernde Licht der Glühlampe wurde noch wesentlich schwächer. Die Geräte ringsum gaben ein Stöhnen von sich; kurzzeitig trat ein Stroboskoplicht-Effekt ein, der alle Gesichter grotesk entstellte.

Durch den Elektroschock bäumte sich Refizuls knochiger Körper wie von Dämonen malträtiert auf, zuckte unwillkürlich und erschauerte. Sein Gesicht verzerrte sich im Krampf bis zur Unkenntlichkeit, und es stiegen kleine Rauchschwaden aus seinen Nasenlöchern auf. Seine Gesichtshaut färbte sich krebsrot, und die gequälten Laute, die er von sich gab, hörten sich an wie das Stöhnen unglücklicher Seelen in der Hölle.

Ich konnte gegen dieses Unrecht nichts, aber auch rein gar nichts ausrichten. Und so ließ ich meinen Tränen freien Lauf und weinte um einen Mann, einen guten Menschen, der nichts anderes wollte, als die längst überfällige Harmonie zwischen Mensch und Tier herzustellen, und dafür nun so furchtbar bestraft wurde. Ich weinte auch um meine Freunde und meine geliebte Madam, die diese Elektroschock-Freaks bestimmt auch auf dem Gewissen hatten. Und zum ersten Mal in meinem jungen Leben ging mir auf: Tränen sind immer das Ende ...

 

Ich verdrängte die bitteren Tränen, die mich aus dunkelster Vergangenheit zu überwältigen drohten. Allmählich kamen Blaubart und ich in die Nähe der Gegend, in der sich der Garten mit dem Brunnen befand. Siebzehn Jahre lang hatte mich eine panische Scheu davon abgehalten, hierher zurückzukehren. Zu sehr waren die Erinnerungen mit Bildern des Entsetzens verbunden. Und nun, da das Heute auf das Gestern treffen sollte, war es wieder ein schlimmer Anlaß, der den Kreis schloß. Es sei denn, Junior pennte gegenwärtig tatsächlich in irgendeinem Keller, träumte von rolligen Sommerschönheiten und hätte sich wahrscheinlich vor Lachen selbst bespritzt, wenn er uns beiden Alten bei diesem Weltuntergangswetter auf den Dächern hätte herumturnen sehen.

Der Schneesturm tobte immer noch mit unverminderter Kraft über unseren Köpfen. Die Wanderung über die windumtosten Dächer hatte mich und Blaubart ganz schön mürbe gemacht. Ich schaute zurück und sah meinen alten Freund durch den weißen Mantel stapfen. So eingeschneit wie er inzwischen war, sah er wie ein geschrumpfter Polarbär aus. Sogar seine Schnurrhaare ähnelten in Schlagsahne getauchten Zahnstochern. Der gute Blaubart! Wenn es jemanden gab, dem ich Unsterblichkeit wünschte, dann diesem treuen Freund. Es war übrigens ein rein egoistischer Wunsch. Denn was würde ich wohl ohne ihn machen? Wem sonst könnte ich meine intimsten Sorgen anvertrauen und wen um Hilfe bitten, wenn ich in einer echten Klemme steckte so wie jetzt? Und welchem durch und durch anständigen Kumpel sonst könnte ich wohl meine Kumpelliebe schenken?

»Scheiße nein, wenn wir nicht bald bei diesem verdammten Brunnen sind, dann kann ich mich gleich in die Kühltruhe legen und darauf hoffen, daß mich jemand zum Abendessen in die Mikrowelle schiebt«, sagte er schnaufend. »Ich spüre vor Kälte schon meine Eier nicht mehr. Vielleicht sind die Dinger auch längst abgefallen. Ich hoffe, dein blöder Sohn weiß das große Opfer zu würdigen.«

»Reg dich ab, Blaubart«, entgegnete ich. »Ich hab das Gefühl, daß wir endlich da sind.« Ich machte halt und blickte vom Dach eines der höchsten bislang von uns bewältigten Gebäude hinunter. Obwohl das Schneetreiben die Sicht erschwerte und dort unten durch den Puderzucker-Look selbst markanteste Einzelheiten gleichförmig wirkten, sprang mir der Brunnen sofort ins Auge. Er existierte also immer noch. Die Ziegelsteinmauern um den Garten, in dem der Brunnen stand, die einst verfallenen alten Häuser und die früher verwilderte Flora – das alles war im Lauf der Zeit proper hergerichtet und zu einem Reservat der oberen Mittelschicht geworden. Rote Kaminglut leuchtete hinter vielen Fenstern der restaurierten Häuser. Blaubart stellte sich neben mich und schaute ebenfalls in das Tal der Saturierten.

»Da unten ist es, Blaubart«, sagte ich. »Ungefähr in der Mitte dieses Setzkastens befindet sich der Brunnen. Wir müssen nur noch eine Möglichkeit finden, wie wir von diesem Dach wieder herunterkommen.«

»Scheiße nein, das glaube ich nicht, Francis. Wir müssen eher eine Möglichkeit finden, wie wir unsere jugendliche Kraft ganz schnell wieder zurückbekommen. Sonst kriegen wir nur noch einen Brunnen zu Gesicht, und zwar den Jungbrunnen – im Jenseits!«

Ich konnte seinem komischen Kommentar nichts abgewinnen, wandte mich zu ihm und sah ihm geradewegs ins deformierte Antlitz. Der Einäugige hatte sich von den Gärten unter uns abgewandt und glotzte über meine Schulter ganz woanders hin. Ich folgte seinem Blick und drehte mich schließlich um die eigene Achse. Nun ja, wie soll ich sagen, jetzt verstand ich Blaubarts Kommentar, auch wenn ich in diesem Fall gerne der Ignoranz den Vorzug gegeben hätte.

In der Ferne zwischen den mächtigen, unheilschwanger paffenden Schornsteinen und den schneckenhausförmigen Gauben standen fünf Gestalten und starrten uns an. Das Schneetreiben verwandelte auch sie in gespensterhafte Wesen, wiewohl ich sie dem Geschlecht der Felidae zuzuordnen vermochte. Seltsamerweise waren sie überhaupt nicht eingeschneit, sondern wurden von den inflationären Schneeflocken großzügig umflogen. Samt und sonders gehörten sie der Rasse der Abessinier an, die älteste Rasse unserer Art überhaupt. Die luchsähnlichen, mit schwarzen Ohrpinseln ausgestatteten Gesellen besaßen einen langen, schlanken orientalischen Körpertyp. Aufsehenerregend war ihr sandfarbenes Fell mit schwarzen Streifen an den Beinen, der Brust und am Schwanz. Dieses einzigartige, sogenannte getickte oder gebänderte Fell ging auf ein mutiertes Gen zurück, welches dafür sorgte, daß jedes Haar zwei oder mehrere dunkle Bänder trug. Ihre Vorfahren stammen aus dem Niltal, was ihre frappierende Ähnlichkeit mit jenen Artgenossen erklärt, die von den alten Ägyptern gemalt und modelliert wurden. Mit ihren hellgrünen Augen, dem fast golden leuchtenden Wüstenkleid und den übergroßen Lauschern wirkten diese fünf, als hätte sie ein böser Fluch aus dem Traumreich der Hieroglyphen in diese unwirtliche Gegend verschlagen.

Sie standen reglos am anderen Ende des Daches und musterten uns starren Blicks. Etwas Unheimliches ging von ihnen aus, geradeso, als wären sie warnende Statuen. Daß sie wie aus dem Nichts aufgetaucht waren, machte die Sache nicht weniger unheimlich.

»Sucht ihr hier etwas Bestimmtes?« fragte der mittlere schließlich. Die Stimme hatte etwas vom Klang einer ätherischen Harfe, obwohl der Kerl der stattlichste von den fünfen war. Er trat hervor und kam langsam zu uns. Die anderen folgten ihm bedächtigen Schrittes.

»Scheiße ja, kann man wohl sagen«, erwiderte Blaubart. »Mein Freund und ich haben heute morgen beschlossen, als erste Spitzohren den Mount Everest zu besteigen. Und wie ihr seht, ist das erste Training auch ganz prima verlaufen.«

»Sehr witzig«, sagte der Abessinier im nicht so witzigen Tonfall und stoppte vor uns. Aus der Nähe potenzierte sich der erhabene Eindruck. Das sandfarbene Fell schien zu schimmern, als würde es beständig von einer unsichtbaren Leuchte angestrahlt. Das Grün der Augen befand sich in ständiger Bewegung, so daß man sich unwillkürlich an Strömungen unter der Oberfläche eines Ozeans erinnert fühlte. Die großen Ohren mit den an den Spitzen wie Dornen emporragenden, schwarzen Härchen bewegten sich in Zeitlupe, als horchten sie wie ein Radar das gesamte Universum ab. Nun stießen auch seine vier anderen Kollegen zu ihm und ließen sich auf die Hinterpfoten nieder. Wenn mich die trüben Lichtverhältnisse nicht täuschten, ging ihr Fell ins Kupferrote und hell Schokoladenbraune. »Hast du auch etwas anderes als faule Witze auf Lager, alter Mann?«

»Scheiße ja, der alte Mann kann dir mal deine geschniegelte Visage in Fetzen tranchieren. Wie wär's damit, hä? Glaub mir, Jüngelchen, diese ollen Krallen haben schon so manch Kräftigerem als dir den Arsch aufgerissen!«

Der Abessinier schüttelte leise den Kopf, stöhnte und setzte einen mitleidigen Ausdruck auf.

»Wo liegt das Problem, Freunde?« fragte ich. »So wie es aussieht, befinden wir uns auf neutralem Territorium. Oder wollt ihr mir etwa erzählen, daß ihr regelmäßig hier hochkommt, um nach läufigen Weibchen Ausschau zu halten? Wir sind nur Reisende. Es gibt überhaupt keinen Anlaß zu Revierstreitigkeiten. Jeder zieht seines Weges, und alles ist in bester Ordnung.«

»Du hast mich nicht verstanden«, sagte der Abessinier, und er schaute sehr, sehr ernst drein. Sein ganzes Gehabe erinnerte mich an jemanden, doch mir wollte nicht einfallen, an wen. Nun hatte ich sowieso keine Muse, einer vagen Erinnerung nachzugehen. »Ich sagte«, wiederholte er, »sucht ihr hier etwas Bestimmtes?«

Bevor Blaubart endgültig explodierte, und es sah verdammt danach aus, als würde eine Explosion unmittelbar bevorstehen, griff ich ein. »Ja, stell dir mal vor, Mr. Geheimnisvoll, wir suchen tatsächlich etwas Bestimmtes. Das bestimmte Etwas heißt Junior und ist mein Sohn. Er ist letzte Nacht verschwunden, und wir vermuten ihn in einem ausgetrockneten Brunnen dort unten in einem der Gärten. Du brauchst also keine Angst zu haben, daß wir auf deinem Dach unsere Fahne einpflanzen und es zu einem neuentdeckten Kontinent erklären. Wenn du uns jetzt freundlicherweise den Weg nach unten zeigen könntest.«

»Junior?« Er machte ein grüblerisches Gesicht, als krame er in seinem Gedächtnis nach. »Ein äußerst phantasieloser Name für einen Sohn, wenn du mich fragst. Ich glaube, ich kenne den Burschen.«

Mir klappte der Unterkiefer herunter. »Du kennst Junior?«

»Ja, meine Freunde und ich kennen jeden, hier und anderswo auch. Darf ich vorstellen ...« Er vollführte mit der rechten Pfote eine ausladende Geste. »Haniel, Jafkiel, Camael und Andon. Ich heiße Metathron.« Die Vorgestellten machten mit dem selbst in diesem grauen Wetter changierenden Fell und den recht abwesenden Blicken ihren wunderlichen Namen alle Ehre.

»Seltsame Namen«, sagte ich. »Sind eure Herrchen Ausländer oder so?«

»Wie man's nimmt. Aber ist dir auch der Gedanke gekommen, daß wir uns diese Namen selbst ausgesucht haben könnten? Was das Problem mit deinem Sohn betrifft, Francis ...«

»Woher weißt du denn, wie ich heiße?«

»Ich sagte schon, wir kennen alle. Und dich kennt ja wohl jeder.«

»Okay«, brummte ich, »du wolltest etwas über Junior sagen.«

»Tja, da können wir dir auch nicht weiterhelfen. Er ist verloren.«

»Wie bitte?«

»Du hast richtig gehört: Ich glaube, da ist nichts zu machen. Den Kleinen wirst du nie mehr wiedersehen, Francis.«

Blaubarts Haare richteten sich stachelgleich auf, und seine blauen Augen schienen sich auf einen Schlag lavarot zu färben. Ganz leise entstieg ein Knurren seinem deformierten Maul. »Hör zu, du Komiker, wenn du und deine Pappkameraden dem Jungen etwas angetan habt, werde ich euch jetzt eigenpfotig in die Geheimnisse der Schwerkraft einweihen! Ist mir scheißegal, ob ihr in der Überzahl seid. Wenn's drauf ankommt, nehme ich es mit euch allen gleichzeitig auf. Scheiße ja!«

»Das gleiche gilt auch für mich«, sprang ich ihm bei.

»Darauf kannst du dich verlassen, Methadon oder wie immer du heißt!«

Metathron lächelte süffisant, und auch seine geleckten Kumpane konnten sich ein blasiertes Lächeln nicht verkneifen. »Nein, nichts dergleichen, Francis. Wir würden niemandem etwas antun, weil ... Nun ja, wir sind Pazifisten. Ich hatte nur plötzlich so ein Gefühl, daß dein Sohn inzwischen unrettbar verloren ist. Solcherlei Gefühle habe ich oft.«

»Ach nee, was du nicht babbelst! Bist du so eine Art Nostradamus für mittlere Lohngruppen oder was?« Ich verbarg meine Sorge um den Kleinen verbissen hinter einem höhnischen Zynismus. In Wahrheit fraß sich diese Sorge wie eine aggressive Säure durch mein Bewußtsein, wo es schreckliche Vorstellungen auslöste, die ich mir vor ein paar Minuten nicht im schlimmsten Alptraum hätte ausmalen können.

»Also, eine Zukunftsvorhersage würde ich mir ehrlich gesagt nicht zutrauen«, antwortete der Abessinier. Es war schon im schlechtesten Sinne bewundernswert, wie er mir einfach so ins Gesicht sagte, daß mein Junge tot war, und dabei gleichzeitig ein Gehabe an den Tag legte, als spreche er über das Wetter. »Es ist nur so, daß wir extrem sensibel sind für das, was im Revier gerade geschieht. Man könnte es auch als Empathie beschreiben.«

»Und wie kommst du auf die Idee, daß Junior tot ist? Hast du etwa gesehen, daß ihm etwas zugestoßen ist?«

»Ich erinnere mich nicht, über den Tod von irgend jemandem gesprochen zu haben. Aber ... Da gibt es doch diesen Vertrag, den du abgeschlossen hast?«

»Was für einen blöden Vertrag?«

Metathron blinzelte mich schelmisch an wie ein Kaufhausdetektiv, der die Unschuldsbeteuerungen des Ladendiebs nur mit Humor zu ertragen vermag. Es war mir schleierhaft, was er meinte. Das heißt... Ich spürte etwas in mir aufglühen, so etwas wie ein Stück schweres Metall, das ich in einer eisigen Kammer meines Bewußtseins all die Jahre mit mir herumgetragen hatte und das sich nun bemerkbar machte. Allerdings hatte ich nicht die geringste Ahnung, was es damit auf sich haben könnte. Schwammige Bilder gingen mir durch den Kopf, doch weder erfaßte ich ihren Inhalt, noch vermochte ich sie zu interpretieren. Der Kerl hatte mich kalt erwischt, wie man so schön sagt.

»Was für ein blöder Vertrag?« fragte auch Blaubart und blickte abwechselnd mich und Metathron an. Er war nicht weniger verwirrt als ich.

»Ach ja, der Vertrag«, sagte ich schließlich, weil mir sonst nichts Gescheites einfiel. »Gustav, mein Dosenöffner, hat mit dem Tierarzt so eine Art Krankenversicherung abgeschlossen. Das ist in meinem Alter günstiger, als bei jedem Besuch eine Riesensumme hinzulegen. Aber was hat das mit Junior zu tun?«

»Gar nichts.« Metathron kniff die Augen zusammen. Kein Fünkchen Humor war darin mehr zu sehen. »Ich meine einen anderen Vertrag. Lange her. Du erinnerst dich nicht?«

»Nö.«

Es trat eine gespenstische Pause ein, in der niemand so recht wußte, wie weiter vorzugehen war. Sogar der stets hocherregte Blaubart brachte kein Wort mehr heraus. Der starke Wind und in seinem Schlepptau Myriaden von Schneeflocken sausten uns um die Ohren, und angesichts des luftigen Schauplatzes hoch über dem ganzen Revier hätten wir uns auch genauso gut im Showdown eines Thrillers befinden können.

»Obwohl uns die Sache aussichtslos scheint, wollen wir euch bei der Suche nach Junior begleiten«, sagte Metathron nach einer quälend langen Weile.

»Aus reiner Barmherzigkeit?« fragte ich überrascht.

»Nein«, entgegnete er, »im Auftrag von Mr. Geheimnisvoll!«